Name Me – ein Porträt als Dialog anhand des Namensystems der Kelabit

Von Angelika Böck
Themen: Name; Namensänderung; Kunst und Forschung; Porträt; Dialog; Individuum; Kelabit; Borneo
Eingereicht 23.7.2012
Angenommen 27.2.2014
Veröffentlicht 16.7.2014

Abstract: Dieser Beitrag betrifft die künstlerische Arbeit Name Me, die im Rahmen von Porträt als Dialog, der Erforschung von Formen der individuellen Repräsentation, entstand. Porträt als Dialog provoziert in unterschiedlichen Konstellationen einen Darstellungsdialog, um zur Erweiterung der Kunstform Porträt beizutragen. Name Me richtet den Blick auf die Benennung und Namensänderung der Kelabit, einer indigenen Bevölkerungsgruppe im Hochland Zentral-Borneos. Vorgestellt wird deren Namensystem und das (ehemals praktizierte) ihrer Nachbarn, der Penan.

Einleitung

1Serendipidy – mit dem glücklichen Zufall (bzw. der zufälligen Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue und überraschende Entdeckung erweist) nimmt dieses Kunstprojekt seinen Lauf. Serendipität ist das Forschungsthema eines Dortmunder Literaturwissenschaftlers, den ich 2007 im Zusammenhang mit einem anderen Kunstprojekt befragte. Mein Gesprächspartner beschrieb unter anderem eine persönliche Erfahrung: Oft greift er ein x-beliebiges Buch aus einem Bibliotheksregal, um dort überraschend etwas zu finden, das seinem momentanen Interesse entspricht.

2Unmittelbar nach dem Interview probiere ich seine Methode in der Universitätsbibliothek aus und greife wahllos in das Regal „Völkerkunde“. Es ist ein Exemplar von Claude Lévi-Strauss’ „Das wilde Denken“. Ich schlage das Buch auf und lese einen Abschnitt über die Praxis der Namensgebung bei den Penan, einer ursprünglich (auch heute noch teilweise) nomadischen Bevölkerungsgruppe von Jägern und Sammlern auf der Insel Borneo.

3Ein Penan, so erfahre ich, kann je nach seinem Alter und seinen Familienverhältnissen durch drei Arten von Ausdrücken bezeichnet werden: durch einen Personennamen, durch ein Teknonym („Vater eines sowieso“, „Mutter eines sowieso“) oder schließlich durch ein Nekronym: Es bringt die Familienbeziehung eines verstorbenen Verwandten mit dem Subjekt zum Ausdruck („Vater tot“, „Nichte tot“ usw.). Die westlichen Penan besitzen nicht weniger als sechsundzwanzig verschiedene Nekronyme, die dem Verwandtschaftsgrad, dem Alter des Verstorbenen, dem Geschlecht, der Geburtenfolge der Kinder bis zum neunten Kind entsprechen. Die Regeln für die Verwendung dieser Namen sind von überraschender Komplexität. Sehr vereinfacht kann man sagen, dass ein Kind durch seinen Eigennamen bekannt ist, bis einer seiner Vorfahren stirbt. Wenn es sich um einen Großvater handelt, wird das Kind Tupou genannt. Wenn der Bruder seines Vaters stirbt, wird es Ilun und bleibt es solange, bis ein anderer Verwandter stirbt. Dann bekommt es einen neuen Namen. Bevor ein Penan heiratet und selbst Kinder hat, kann er auf diese Weise eine Reihe von sechs, sieben oder mehr Nekronymen durchlaufen: Bei der Geburt des ersten Kindes nehmen Vater und Mutter ein Teknonym an, das ihre Beziehung zu diesem namentlich bezeichneten Kind ausdrückt, so Tama Awing bzw. Tinen Awing (Vater bzw. Mutter von Awing). Wenn das Kind stirbt, wird das Teknonym durch ein Nekronym ersetzt: „Erstes-Kind-totgeboren“. Bei der nächsten Geburt verdrängt dann ein neues Teknonym das Nekronym usw.

4Die Situation wird noch kompliziert durch die besonderen Regeln, die zwischen Geschwisterkindern gelten. Ein Kind wird mit seinem Namen gerufen, wenn alle seine Brüder und Schwestern am Leben sind. Stirbt eines von ihnen, so bekommt es ein Nekronym: „Älterer (oder jüngerer) Bruder tot“, aber nach der Geburt eines neuen Bruders oder einer Schwester wird das Nekronym aufgegeben, und das Kind nimmt wieder seinen alten Namen an (vgl. Lévi-Strauss 1968).

Porträt als Dialog

5Das Gelesene passte wie ein Puzzlestein zu meinem intensiven Interesse an Formen, Äußerungen, Praktiken, Ritualen und Zeichen, mit denen ein Individuum repräsentiert werden kann. Seit über zehn Jahren fordere ich das herkömmliche Verständnis von Porträt heraus, indem ich geeignete Praktiken in meiner künstlerischen Arbeit zu alternativen Formen des Porträts erkläre und sie einander gegenüberstelle. Obwohl ich mich bislang auf die indigenen Praktiken als Beispiele für verschiedene Darstellungsmodi konzentriert habe, ist mein Interesse nicht auf die Methoden der kulturell oder subaltern anderen beschränkt. Auch ist mein Verständnis des anderen eher ein Synonym für das Gegenüber, dessen Einsichten und Ansichten meines Selbst und der Welt um mich herum ich zu gewinnen versuche.

6Für alle Installationen der Reihe Porträt als Dialog präsentierte ich mich meinen Mitmenschen als zu verhandelndes, zu studierendes und repräsentierendes Subjekt und dokumentiere sie dabei. Ich bitte meine DialogpartnerInnen beispielsweise, meine Spuren zu lesen (Track Me), eine Joik-Melodie nach mir zu komponieren (Seek Me), anzugeben, was ihnen mein Geruch über mich mitteilt (Smell Me), welche Assoziationen meine verschleierte Erscheinung in ihnen hervorruft (Imagine Me), oder einen Namen für mich auszuwählen (Name Me). Während bei meinen DialogpartnerInnen von Projekt zu Projekt unterschiedliche Techniken zum Einsatz kommen, verwende ich bei allen Projekten durchgehend dieselbe Technik: Fotografie oder jüngst auch Videoaufzeichnung. Die Neigung zu dokumentieren und archivieren entspricht den Konzepten der Wissensproduktion in Forschung und Kunst, mit denen ich als westliche Künstlerin vertraut bin.

7Der zentrale Punkt meiner Feldarbeit besteht in der strategischen Umkehrung der klassischen wissenschaftlichen Blickrichtungen. Die Rolle der Künstlerin als einzige Darstellerin und der Status der Forscherin als unbeteiligte Beobachterin werden gebrochen. Porträt als Dialog zielt auf die wechselseitige Beziehung von Subjekt und Objekt, indem die traditionellen Rollen von KünstlerIn und Modell verschränkt und verkehrt werden. Diese Strategie verbindet die Praxis von konzeptueller und partizipativer Kunst mit den Methoden der teilnehmenden Beobachtung, welche die persönliche Beteiligung der Forscherin (oder Künstlerin) an den Interaktionen der Personen, die das Forschungsobjekt sind, beinhaltet. Ich nenne diese praxisorientierte Forschung, die in einem Prozess der Interaktion und kollaborativen Produktion entsteht, Porträt als Dialog, weil es darin um die wechselseitige Beziehung von Subjekt und Objekt geht. Ich spreche von „Dialog“, obwohl die Zusammenarbeit in einem Rahmen stattfindet, der von mir allein definiert wird und die Beitragenden keinen Einfluss auf die Präsentation des künstlerischen Produkts bzw. ihrer Vertretung darin haben. Der Begriff des Dialogs ist meiner Ansicht nach begründet, da meiner Darstellung durch die Beitragenden eine gleichberechtigte Stellung eingeräumt wird – obwohl dies nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich ist. Indem ich diese Methoden zu Formen des „Porträts“ erkläre und die Praktizierenden als SpezialistInnen darin, schreibe ich ihnen künstlerische Qualität und Fertigkeit zu. Ich vermittele dies in meiner Arbeit, indem ich mich als unbeschriebenes Blatt zur Verfügung stelle, das wieder und wieder beschrieben wird.

Von den Penan zu den Kelabit

8Lévi-Strauss’ Beschreibung des komplexen Namensystems der Penan ist mein „call to action“ für eine neue Arbeit im Rahmen von Porträt als Dialog. In Kuala Lumpur treffe ich David, einen Filmemacher, der einige Jahre zuvor einen Dokumentarfilm über die Salzgewinnung bei den Kelabit in Bario (der höchstgelegenen Siedlung im Hochland von Sarawak, wo ich hoffe, auf Penan zu treffen) produziert hat. David klärt mich darüber auf, dass die Erteilung der offiziellen Genehmigung für die Zusammenarbeit mit den Penan im Rahmen eines wie auch immer gearteten Forschungsvorhabens sehr viel Zeit in Anspruch nehmen kann, und rät mir dazu, mein Kunstprojekt zunächst mit den Kelabit, die ihren Namen ebenfalls mehrfach im Laufe des Lebens ändern, durchzuführen. Name Me befasst sich also nicht, wie ursprünglich geplant, mit dem Namensystem der Penan (das diese, wie ich später aufgrund von Befragungen in den Kelabit-Highlands erfahre, offenbar nicht mehr, so wie von Lévi-Strauss beschrieben, praktizieren), sondern der Namensgebung der Kelabit, einer der kleinsten Bevölkerungsgruppe Sarawaks, bestehend aus (entsprechend der Volkszählung aus dem Jahr 2000) 5.009 bzw. 2.547 männlichen und 2.462 weiblichen Mitgliedern (Batu Bala 2013: 13).

9Die meisten Kelabit leben oder wurden geboren in den Kelabit Highlands, einer großen bewaldeten Hochebene im Zentrum der Insel Borneo am Oberlauf des Baram Flusses in Sarawak, Ost-Malaysia. Der Name Kelabit selbst war eine falsche Bezeichnung, mit der Charles Hose, der Offizier des Bezirks Baram in Marudi, im Jahr 1901 diejenigen Menschen bedachte, die in den Highlands südlich des Mount Murud lebten. James Brook, der weiße Raja von Sarawak, wollte damals nämlich wissen, wie viele verschiedene Gruppen in seinem Gebiet leben (das Hochland war Sarawak 1882 zugeschlagen worden), und beauftragte Hose mit der Durchführung einer Umfrage. Dieser erkundigte sich pflichtbewusst bei einer der ersten Gruppen, die aus dem Hochland nach Marudi gekommen waren, woher sie stammten und welcher Gruppe sie zugehörten. Sie antworteten Orang Pa'Labid bzw. Lun Pa'Labid (was die Leute von Pa'Labid in Malaiisch und Kelabit bedeutet), weil sie Bewohner eines Ort namens Pa'Labid waren. Zu dieser Zeit existierte keine gemeinsame Bezeichnung für all jene Menschen, die im Hochland lebten. Sie nannten sich jeweils nach den Orten, aus denen sie stammten, also z.B. Lun Pa'Labid, Lun Patik oder Lun Bario. Hose verhörte sich und notierte anstelle eines ‚P‘ ein ‚K‘ und anstelle eines ‚d‘ ein ‚t‘ in seinen Unterlagen. Somit wurde nicht nur aus Lun Pa'Labid Kelabit, sondern er schuf gleichzeitig eine einheitliche Bezeichnung für die Menschen in diesem Teil von Sarawak, die seitdem Gültigkeit besitzt (Batu Bala 2013: 14f.). Während sich die heutigen Kelabit, nach Batu Bala, mit ihrem Gruppennamen identifizieren, bietet die sprachliche Nähe zum Begriff Kelabet, was Gibbon in der Sprache der Kelabit bedeutet, häufig Anlass zu Scherzen.

Namensgebung bei den Kelabit

10Ein/e Kelabit kann seinen/ihren Namen mehrmals im Laufe des Lebens ändern. Während der erste Name heutzutage entweder ein Kelabit-Name oder ein christlicher Vorname ist, ist der im Rahmen einer Namensänderungszeremonie angenommene Name stets ein Kelabit-Name. Im Gegensatz zu vergangenen Tagen bleibt dieser erste Name, der in die Geburtsurkunde eingetragen wird und der in allen offiziellen Dokumenten wie Pass und Personalausweis Verwendung findet, auch nach der Namensänderung bestehen. Der Namenswechsel geschieht bei einem Fest zur Namensänderung (Irau mekaa ngadan), welches die Familienoberhäupter organisieren, nachdem ihr Kind und Schwiegerkind ihr erstes Baby bekommen haben. Im Zuge dieses Festes nehmen die Großeltern einen Großelternnamen an, die Eltern erhalten einen Elternnamen, und es wird ein Name für das Baby gewählt (Janowski 2003: 133). Die Gesamtheit der sozialen Welt ist eingeladen, mit anderen Worten alle diejenigen, die als ‚verwandt‘ gelten. Mit dem Irau mekaa ngadan wird die erfolgreiche Reproduktion des das Fest organisierenden Paares durch die Produktion von Enkelkindern zum Ausdruck gebracht, und je mehr Menschen bewirtet werden können, umso mehr Status wird generiert (Janowski 2014: 16, 23).

11Normalerweise schlagen die Ältesten der nahen Verwandtschaft einen Namen für das Kind, seine Eltern, Großeltern und Urgroßeltern vor. Die zu Benennenden nehmen diesen entweder an oder suchen deren Zustimmung zu einem Namen, den sie für passender erachten. Entfernte Verwandte können das Namensänderungsfest ebenfalls nutzen, um ihre Namen zu ändern, z.B., wenn sie nicht über die Mittel verfügen, ein solches Fest selbst zu organisieren. Andere Angehörige können bei dieser Gelegenheit ihre Namen bestätigen oder den Namen, den sie vor kurzem während eines solchen Ereignisses angenommen haben, bekanntgeben.

12Diese neue Form der Identifikation und Anrede steht in engem Zusammenhang mit dem Familienstammbaum, der geprägt ist vom ehemaligen Klassensystem, welches die Gesellschaft der frühen Kelabit in Adelige (Paren), Bürger (Lemulun) und Sklaven (Demulun) teilte. Die Anforderung an einen stimmigen Namen gilt jedoch nicht nur in Bezug auf die Genealogie. Um eine Persönlichkeit treffend zu bezeichnen, sollte ein Kelabit-Name zusätzlich auf eine gute oder schlechte Eigenschaft der benannten Personen hinweisen (Villard 1975: 49ff.). Diese Praxis wird heute nicht mehr strikt verfolgt. Seit das Klassensystem mit der Christianisierung (die etwa seit den 1960er Jahren abgeschlossen war) abgeschafft wurde, ist es jedem erlaubt, einen hohen Statusnamen anzunehmen. Gewöhnlich wird jedoch ein Name aus dem eigenen Familiensystem (also z.B. der durch Namensänderung oder Tod abgelegte Name eines nahen Verwandten) gewählt. Denn laut traditioneller Auffassung bringt ein unangemessener Name Pech (Tula) – insbesondere wenn sein/e TrägerIn nicht in der Lage ist, die mit den Namen einhergehende Verantwortung zu übernehmen. Eine Person, die sich nicht korrekt benannt oder durch einen Name belastet fühlt, hat jedoch die Möglichkeit diesen bei einem Irau mekaa ngadan wieder zu ändern (Interview Wilson Bala, 22.04.2012).

13Die Praxis der Namensgebung der Kelabit unterscheidet sich deutlich von anderen Gruppen in Borneo, die auf Attribute wie Vater, Witwe, „Hat seinen ersten Sohn verloren“, „Hat seine erste Tochter verloren“ etc. Wert legen. Mady Villard, eine französische Reisende (geb. 1930), die zwischen 1971 und 1975 in den Kelabit-Highlands gelebt hat (vor allem in Long Lellang), führt einige Beispiele an, welche die Eigenart der Kelabit-Namen zeigen, wie z.B.: Ribuh Bala (der, der Neuigkeiten bringt), Pun Nakaruh (Großer Redner) oder Petuan Lemulun (der, dessen Gesellschaft gefragt ist).

14Laut Villard wird der Namen eines Kindes traditionell aus einer Reihe von 50 bis 60 Namen ausgewählt. Die junge Mutter erhält den Namen Sinah (Mutter), gefolgt von ihrem neuen Namen, der Vater den Namen Tama, gefolgt von seinem neuen Namen. Der Elternname ist dabei für Vater und Mutter derselbe. Erst als Großmutter bzw. Großvater unterscheiden sich die Ehepaare wieder durch einen individuellen Namen. Dabei erhalten Großeltern, unabhängig vom Geschlecht, vor ihrem Namen den Titel Tepu (Großvater/Großmutter), alle Urgroßeltern den Namenszusatz Pun, wodurch gleichzeitig die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation markiert wird.

15Alle Kinder sprechen nicht nur ihre eigenen Großeltern, sondern auch alle anderen Menschen dieser Generation mit Tepu an. Ob ein Kind von seinen eigenen Großeltern spricht, zeigt sich daran, dass es dem Tepu den ersten Teil des zweiteiligen Namens des jeweiligen Großelternteils folgen lässt. Spricht ein Kelabit über den Großvater oder die Großmutter eines Freundes oder Verwandten, sagt er/sie Tapum, spricht er/sie über Menschen der Großelterngeneration, die nicht Großeltern eines der beiden Gesprächspartner sind, folgt der gesamte Name dem Titel Tepu. Gleiches gilt bei Elternteilen. Väter und Mütter werden Tama bzw. Sinah genannt, und zwar nicht nur von ihren eigenen Kindern, sondern auch von ihren Eltern, Geschwistern und allen Mitgliedern derselben Generation. Die Ehepartner sprechen sich nun untereinander nicht mehr mit ihren Vornamen (oder eher Kosenamen), sondern mit ihren Titeln an. Dabei wird deutlich, ob das erstgeborene Kind ein Junge oder ein Mädchen ist. Väter werden entweder mit Temabo (bei einem erstgeborenen Sohn) oder Temamu (bei einem erstgeborenen Mädchen) angesprochen, Mütter Sinabo (Sohn) oder Sinamo (Tochter). Sprechen die Ehepartner übereinander, fügen sie gegebenenfalls den ersten Teil des Namens des Gatten oder der Gattin hinzu. Kinder werden bei ihrem Namen genannt. Die liebevolle direkte Anrede vermeidet jedoch den Eigennamen, so dass Eltern beispielsweise ihre Kinder mit Abu (Sohn) oder Mu (Tochter) rufen.

16Für Kelabit ist es grundsätzlich unhöflich, eine Person direkt beim Namen zu nennen. Was für westliche Ohren (wenn der Eigenname bekannt ist) unhöflich klingt, z.B. „Der alte Mann dort“ oder „Die Frau, die den Korb flicht“, ist für Kelabit ein Zeichen des guten Tons. Aus Respekt verwenden sie deshalb ebenfalls Verwandtschaftsbezeichnungen für Geschwister (Kananak), Cousins (Kanid), Onkel und Tanten (Tama/Sinah Mnagkang), Stiefeltern (Tama/Sinah Nanguli) und Adoptiveltern (Tatama Nganalap). Dieser spezielle Umgang mit dem Namen führt letztlich dazu, dass die Kelabit es aus Höflichkeit vermeiden, gegenüber Fremden ihren eigenen Namen zu nennen (vgl. Villard 1975: 49–53).

Die Versuchsanordnung

17Mein erster Interviewpartner, den ich zum Namensystem der Kelabit befrage, ist Paad Ayu. Er hieß davor Ribuh Balang (Tausend Tiger), Tagung Aran, Iran Maran und, als Kind, Anyi. Balaan Ayu, mein zweiter Interviewpartner, trug zuvor die Namen Mikat Balan und Lian Ipang, und Belaan Tau, der dritte im Bund, hieß früher Ngimat Ayu und Gerawat Aran.

18Alle Interviews erfolgen nach demselben Schema: Zunächst bitte ich um eine möglichst umfangreiche Erklärung der Namensgebung und -änderung und fordere zum Schluss meinen Gesprächspartner dazu auf, einen Kelabit-Namen für mich auszuwählen. Zu diesem Zweck mache ich, worum ich jeweils gebeten werde, die notwendigen Angaben zu meinem Familienstand (unverheiratet, kinderlos). Um eine gegenseitige Einflussnahme zu vermeiden, verschweige ich meinen VermittlerInnen und ÜbersetzerInnen in Miri und Bario ganz bewusst, dass die Wahl meines Namens ein zentraler Punkt für mein Kunstprojekt ist.

19Unabhängig voneinander wählen die drei befragten alten Männer denselben Kelabit-Namen für mich aus: Dayang. Zwei von ihnen geben mir einen zweiten Namensteil: Aran (ein Teil des Namens des Namensgebers). Entsprechend der Auskunft von Monica Janowski, einer Anthropologin, die seit vielen Jahren die Kultur der Kelabit studiert, handelt es sich dabei um einen Namen von hohem Status (Korrespondenz, 2010). Später erfahre ich, dass die drei zufällig angesprochenen Interviewpartner der ehemaligen Adligenklasse zugehörig sind (bzw. geboren wurden, als die Klassengesellschaft Bestand hatte), folglich haben sie für mich einen Namen für unverheiratete Frauen aus ihrem System ausgewählt.

Paad Ayu während des Interviews (Foto: Angelika Böck)
Abbildung 1: Paad Ayu während des Interviews (Foto: Angelika Böck)
Belaan Ayu während des Interviews (Foto: Angelika Böck)
Abbildung 2: Belaan Ayu während des Interviews (Foto: Angelika Böck)
Belaan Tau während des Interviews (Foto: Angelika Böck)
Abbildung 3: Belaan Tau während des Interviews (Foto: Angelika Böck)

20Der Name Dayang bezieht sich auf die mythologische Figur eines zwischen Himmel und Erde angesiedelten weiblichen menschlich-spirituellen Mischwesens. Eine von vielen traditionellen Erzählungen beschreibt, wie ein junger Kelabit, Agan Tadun, eine kleine Gruppe Mädchen der Oberwelt beim Baden im Fluss beobachtet. Er verliebt sich in den Anblick eines der Mädchen und versteckt ihre Flügel, die sie zum Baden abgelegt hat. Ohne diese kann Dayang ihren Schwestern, die sich nach dem Bad auf den Heimweg machen, nicht folgen. Agan Tadun nimmt sie mit in sein Langhaus, die beiden werden ein Paar und Eltern eines Sohnes. Dieser findet später die versteckten Schwingen der Mutter und ermöglicht ihr damit die Rückkehr in ihre Heimat. Der unglücklich zurückgebliebene Ehemann ist menschlicher Natur und kann seiner Frau nicht folgen. So ersinnt er einen cleveren Plan: Mit dem Blasrohr schießt er Pfeile in den Himmel, so dass sie einen langen Stab bilden. Er klettert an diesem wie an einer Leiter empor und überredet Dayang zur Rückkehr.

21Nachdem ich auf diese Art einen Namen für mein Kunstprojekt identifiziert habe, besuche ich alle anwesenden bzw. erreichbaren Mädchen und Frauen, die den Namen Dayang haben oder die ihn zu einem früheren Zeitpunkt getragen haben, in Bario, Miri und allen Dörfern, die zwischen diesen Orten liegen (Pa’Mada, Remudu und Pa’Dalih), und später in Long Seridan. Ich bitte sie, sich mir für ein Videoporträt zur Verfügung zu stellen. Dabei positioniere ich meine Geschlechts- und Namensgenossinnen jeweils vor einem Hintergrund, der etwas aus ihrem privaten Umfeld zeigt, z.B. das eigene Haus, Geschäft oder Feld, und bitte sie, drei Minuten lang vor der Kamera stillzustehen. Somit porträtiere ich sie nach der Manier des Tableau vivant (oder lebenden Bildes), welches die Aufstellung einer Einzelperson oder einer Gruppe von Menschen in einer theatralischen Szene organisiert und damit die Traditionen des Theaters mit der der Malerei oder Fotografie verbindet. Die Installation präsentiert alle Videoporträts (die in einer Endlosschleife laufen) nebeneinander auf Monitoren, die wie in einer Bildergalerie in einer Reihe angeordnet sind und somit daran anknüpfen, wie die modernen fotografischen Familienporträts in Bario Asal, einem der ältesten Kelabit-Langäuser in Bario, aufgehängt sind.

Die Installation

Dayang Matu @ Sina Paran Matu @ Doo Illah (Foto: Angelika Böck)
Abbildung 4: Dayang Matu @ Sina Paran Matu @ Doo Illah (Foto: Angelika Böck)
Dayang Robert (Foto: Angelika Böck)
Abbildung 5: Dayang Robert (Foto: Angelika Böck)
Dayang Menu @  Sina Nawar Ulun @ Pun Maryane (Foto: Angelika Böck)
Abbildung 6: Dayang Menu @ Sina Nawar Ulun @ Pun Maryane (Foto: Angelika Böck)

22Vergleichbar einer wissenschaftlichen Versuchsanordnung erfahren meine ‚Porträt-PartnerInnen‘ in der Regel vor Abschluss des Projektes nicht, in welchem Umfang sie darin involviert sind. Ich beauftrage und entlohne die Beitragenden für ihr Mitwirken und kläre sie (wenn möglich) vollständig auf, sobald es der Fortgang des Experiments erlaubt. In diesem Fall bedeutet das, dass ich die interviewten Männer lediglich darüber informiere, dass die Befragung (und das Video, das im Zuge dessen entstand) im Rahmen eines Kunstprojektes stattfinden. Die Frauen hingegen erfahren von Anfang an, dass ich sie wegen ihres Namens ausgewählt habe und dass es sich um eine künstlerische Arbeit handelt, bei der ihr Videoporträt zentraler Bestandteil ist (und dass diese in öffentlichen Ausstellungen und Publikationen gezeigt und beschrieben wird).

23Ich entwerfe und organisiere meine Projekte, führe sie durch, indem ich andere um ihren Beitrag bitte, und präsentiere die Resultate in Ausstellungen und Publikationen. Doch meine künstlerische Leistung besteht hauptsächlich im Aufspüren von Praktiken, die sich auf die eine oder andere Weise auf das Individuum beziehen. Es versteht sich von selbst, dass diese alternativen Formen des Porträtierens, die weder von den Praktizierenden noch von der wissenschaftlichen Gemeinschaft als solche wahrgenommen werden, nicht einfach aufzuspüren sind, so dass sich meine Arbeiten häufig – wenn auch nicht immer so auffällig wie im Fall von Name Me – zufälligen Begegnungen bzw. einem ständigen Fokus verdankt. Porträt als Dialog ist eine anhaltende Forschung, die über die Kreation einzelner Kunstwerke hinaus zielt. Denn es geht bei diesen Zuschreibungen des Eigenartigen auch darum, die Kunstform Porträt zu hinterfragen und Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu lenken, dass neben den westlichen Porträtkonventionen reiche – als solche weitgehend nicht wahrgenommene und erforschte – Traditionen zur Wahrnehmung und Repräsentation des Menschen existieren.

24Es ist keine Frage, dass ich eine Außenseiterin bin, eine Streunerin, die sich in unbekanntes Terrain begibt. Ich wusste jeweils sehr wenig vor meiner Ankunft an jedem Standort. Ich bin mir voll bewusst, dass meine Beurteilung und Einstufung sowohl im wissenschaftlichen Sinne als auch in den Augen meiner Mitwirkenden eine Fehlinterpretation sein kann. Meine Arbeit, die sich ebenso an mich selbst wie an die Beitragenden und BetrachterInnen richtet, ist (auch wenn meine Methoden denen anderer Disziplinen wie der Ethnologie oder Soziologie verwand sind) kein wissenschaftliches Unterfangen, sondern der künstlerische Ausdruck eines intensiven Interesses an der Erfahrung unseres gesamten menschlichen Wahrnehmungspotentials. Indem ich den Blick auf mich selbst durch die Augen der anderen richte, geschieht manchmal etwas, das die norwegisch-amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt in Bezug auf die Kunstform des Schreibens folgendermaßen ausdrückt: „Ich sehe oft deutlicher von wo anders, als jemand anderes. Und in diesem vorgestellten anderen finde ich manchmal, was ich vor mir selbst verstecke.“ (Hustvedt 2012: 111)

Literatur

  • Batu Bala, Sagau (2013): Kelabit’s Story. The Grat Transition. Singapore: Most Trafford, S. 13–15.
  • Hustvedt, Siri (2012): Living, Thinking, Looking. London: Sceptre; New York: Henry Holt, S. 111.
  • Janowski, Monica (2003): Masculinity, Potency, and Pig Fat: The Kelabit of Sarawak. In The Fat of the Land (Hg. H. Walker), London: Footwork, S. 130–142.
  • Janowski, Monica (2014): Pigs and People in the Kelabit Highlands, Sarawak. In: Indonesia and the Malay World 16, S. 23.
  • Monthly Stastistical Bulletin Sarawak (Department of statistics Malaysia, 2008), 20 trans: Batu Bala, Sagau (2013): Kelabit’s Story. The Grat Transition. Singapore: Most Trafford, S. 13.
  • Lévi-Strauss, Claude (1962): Das wilde Denken. München: Suhrkamp Insel Verlag.
  • Villard, Mady (1975): Notes on the Kelabit. Borneo Research Bulletin 7, H. 2, S. 49–53.
  • Villard, Mady (1977): Borneo. Chez les Hommes aux long Oreilles. Lancy: Famot Verlag.

Autorin

Angelika Böck
Freischaffende Künstlerin, graduierte 1992 im Fach Innenarchitektur und 1998 im Fach Bildhauerei an der Akademie der Bildenden Künste in München. Ihre Arbeit befasst sich mit menschlichen Wahrnehmungen, dialogischen Strategien und dem Porträt als Kunstform. Sie lebt in München (Deutschland) und Bario (Sarawak/Malaysia).

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